Sprechende Leichen
„Nur keine Halbheiten“, läßt Urs Odermatt eine seiner Figuren sagen. Er selbst hat sich daran gehalten: Der böse Onkel ist das radikalste Stück Kino, das die Deutschschweiz in den letzten Jahren hervorgebracht hat: schnell, scharf, sehr witzig. Sagenhaft provokativ. Der Film verharmlose Pädophilie, zischte der „Beobachter“ wütend.
Eine solche Beobachtung kann man freilich nur machen, wenn man starr geradeaus guckt: auf Armin (Jörg-Heinrich Benthien), ein drahtiges Kerlchen um die 50, das kein Problem damit hat, seinen guttrainierten Körper splitterfasernackt zu präsentieren. Der Dorfschullehrer einer kleinen Aargauer Gemeinde zwingt zudem seine Schülerinnen nackt an die Turngeräte – und zu mehr, wie späterhin klar wird.
Das empört Trix Brunner (Miriam Japp), die vor Jahren von der Stadt aufs Land zog. Ihr Kampf gegen Armin ist freilich ein Kampf gegen Windmühlen. Der ehemalige Spitzensportler sei der Stolz des Dorfes, befindet die Schuldirektorin (Verena Berger) – gegen eine solche Ikone stinke man nicht an. Selbst ihre 17jährige Tochter Saskia ist Trix keine Verbündete. Im Gegenteil. Saskia bedauert, daß sie als einzige in der Klasse nicht von Armin mißbraucht wurde.
Für solche atemberaubend schlüpfrig inszenierte Sexploitation würde man einen US-Regisseur wohl frenetisch feiern. Doch wenn es aus dem Aargau erzählt wird, ist schnell Schluß mit lustig. Dabei macht Regisseur Odermatt überdeutlich, daß sein Film in erster Linie ein Film ist. Es gibt Brecht'sche Verfremdungseffekte ohne Zahl; die Spielfilmhandlung wird durch vor Wut rasende Monologe unterbrochen.
Die Schauspieler sind klasse, die intellektuelle Montage ist brillant – nur Großmeister Godard schneidet sonst so elaboriert. Vor zu viel Verkopfung wird Odermatt durch einen Touch Tarantino geschützt: Der Prolog besteht aus dem bösartigen Zwiegespräch zweier lebender Leichen – eine irre Szene, die noch irrer wird, wenn der Schluß erklärt, was es damit auf sich hat.
Als Anerkennung mißverstanden
Das beste jedoch ist, daß sich die Komplexität des Films keineswegs im Formellen erschöpft. Die Psychologie der Teenagerseelen ist durchaus glaubwürdig – junge Mädchen, deren weibliches Selbstgefühl noch so fragil ist, daß sie den Mißbrauch als Anerkennung ihrer Sexualität mißverstehen.
Zudem zeichnet Odermatt sehr präzise ein soziales Milieu, das nicht die Tat verdammt, sondern jene Person, welche die Tat ans Licht zerren will – eine Form von „Vergangenheitsbewältigung“, die ja nun leider weitverbreitet ist. Man muß bei Der böse Onkel also eher von einem schonungslosen als einem beschönigenden Film sprechen.
Doch bleibt natürlich wahr, daß der Regisseur sich in der Rolle des Bürgerschrecks gefällt. „Die Menschheit entwickelt sich im Dissens“, heißt es im Film. In jedem Fall gilt: Wenn die künstlerische Freiheit und Frechheit, mit der Odermatt agiert, Schule macht, hat der Deutschschweizer Film eine blühende Zukunft. Schon deswegen sollten den Film auch diejenigen schauen, die nicht mit ihm einverstanden sind.
Mathias Heybrock