Der böse Onkel. Klingt nach Mittelalter. Bigotterie. Vorgestern. Wer nennt denn heute einen Onkel noch Onkel? Die Tante Tante? Man nennt sich beim Vornamen, außer man ist alt oder tot, was sowieso das gleiche ist. Der moderne Onkel eignet sich höchstens noch als einer der Böhzen Onkelz in der Punkszene oder als böser nächtlicher Onkel hinter dem Baum im nahen Wald. Onkel sind bald genau so prähistorisch wie Hexen.


Der moderne Mensch kennt keine Hexen. Der moderne Mensch glaubt, was er sieht, was er hört, und was er in die Finger nehmen und zählen kann. Für die sentimentalen Defizite gibt's die Esoterik. Das Wort "Hexen" eignet sich allenfalls noch als Drohung für Kinder. Oder als kokette emanzipatorische Semantik für eine eigenwillige, starke weibliche Persönlichkeit. Die Dörfler in unserer Geschichte treffen also contre coeur den Nagel auf den Kopf, wenn sie Trix Brunner eine Hexe nennen.


Mag sein, daß es keine Hexen mehr gibt. Was sich aber von den alten Unsitten in die Moderne gerettet hat, ist die Lust der Menschen an Hexenjagden. Political Correctness heißt der Imperativ des Zeitgeists. Sind wir nicht alle gute Menschen, führen den Haushalt partnerschaftlich, essen Gemüse aus biologischem Anbau und fahren Velo? Und richten Blick oder Finger je nach Temperament auf Machos, Fette und Benzinverbraucher?


Natürlich ist das alles noch witzig. Aber irgendwann ist fertig lustig, spätestens dann, wenn das Ausgrenzen aus dem warmen Stübchen der Gutmenscherei irreversibel wird und schon der leiseste Verdacht Existenzen vernichten kann.

       

Wer das in seiner extremsten Form sehen will, denke an die bekannten Fälle von Vätern, Lehrern und Sporttrainern, die in den Ruch des Mißbrauchs Minderjähriger geraten sind und denen der nachträgliche Unschuldsbeweis nicht das geringste nützt. Bei gewissen Verbrechen, deren Schwere niemand in Abrede stellt, geraten wir in Hysterie. Seit sogar in meinem Bekanntenkreis sonst mental ungefährdete Menschen von Todesstrafe "wenn mit Kindern" reden, weiß ich, daß man auch in einem durch und durch zivilisierten Land wie der Schweiz die Augen offen halten muß.


Krzysztof Kieślowski, bei dem ich auch wenn das schon eine Weile her ist vieles gelernt habe, was ich über Schauspieler und dramatische Texte weiß, hat einmal unterschieden, daß das europäische Kino weiß, was es erzählt, während das amerikanische Kino recherchiert, was es erzählt. Sieht man einmal von der Richtigkeit, der Wertung und den Schlußfolgerungen dieses etwas maliziösen Unterschieds ab, stellt sich jetzt natürlich die bange Frage, was ich als Autor über die bösen Onkel weiß.


Nun, ich weiß vielleicht nicht so viel über Mißbrauch und Selbstjustiz und deren Folgen, aber kennengelernt in eigener Sache, durchaus auch durch meine polnischen Lehrmeister vermittelt habe ich die Faszination des Bösen. Die Faszination des Bösen als unerschöpfliche Inspirationsquelle für kreatives Arbeiten, als Privileg des Autors, der in der Fiktion aus den Untiefen der Seele schöpfen kann, Untiefen, die wir im wahren Leben besser wegsperren: In unserer netten, politisch korrekten Zeit nicht gerade eine bequeme Position, zumal der Autor so schnell in den Verdacht gerät, der böse Held wecke mehr Interesse als das arme Opfer.


Aber bietet nicht gerade das Erzählen aus der Sicht des Advocatus diaboli die Chance, nicht in die Falle einer anwaltschaftlichen Dramaturgie zu tappen, wenn ich mich einem sozial relevanten Stoff zuwende? Die Chance, für einmal nicht dem immer gleichen Zuschauer das immer gleiche Weltbild zu erzählen, das dieser ohnehin schon aus den gleichen Geschichten kennt?


Aber auch wenn Der böse Onkel kein parteiergreifender Film sein will, verliere ich die Fragen nach den Progromen in der heutigen Zeit nicht aus den Augen. Ich übersehe nicht, wie nah sich in einer kleinen heilen Welt Geborgenheit und Bevormundung sind, wie schnell Gemütlichkeit in Ungemütlichkeit umschlagen kann, und wie militant eine vermeintlich schweigende Mehrheit eine angeblich falsch denkende Minderheit - oder eine Einzelperson - aussondern kann.


Wenn es Der böse Onkel schafft, den Zuschauer zu der einen oder anderen Frage nach der kleinen Diktatur in unserem Alltag zu provozieren, ist der Film mehr als geglückt. Fragen reichen. Fragen sind bekanntlich die besseren Antworten selbst, wenn wir uns dabei gut unterhalten.


Denn ein altes Rezept ist für mich Konzept: Den Griff in die Kolportage tiefer für das Lachen zahlt der Zuschauer mit einem sperrigen Rätsel. Oder mit einer versteckten Botschaft, wenn man unbedingt will. Manchmal gelingt es. Lustig und ernst. In der Musik würde man es einen Flirt zwischen U und E nennen.

Urs Odermatt

Der Schweizer Regisseur und Autor Urs Odermatt wurde 1955 in Stans, Nidwalden, geboren und arbeitet seit 1983 für Film, Fernsehen und Theater.

Seine Ausbildung in Regie und szenisches Schreiben erhielt er bei den beiden polnischen Altmeistern Krzysztof Kieślowski und Edward Żebrowski.

Urs Odermatt.
Urs Odermatt. Regisseur.
Urs Odermatt. Regisseur.
Urs Odermatt. Regisseur.
Urs Odermatt. Regisseur.
Urs Odermatt.
"Eigentlich die Uraufgabe der Kunst, für den Inhalt eine Form zu finden. Auch im Zeitalter der Scriptdoktoren, der Wendepunkt- dramaturgen und der Genredefinierer. Inhalte provozieren heute keinen mehr. Brisante Themen gibt's im Hauptabend- fernsehen. Die Form ist die wahre Subversion." Urs Odermatt