Schwere Kost, atemberaubend angerichtet


Inhaltlich gewagt, formal brillant: Diese Woche kommt der umstrittene Low-Budget-Film Der böse Onkel in die Kinos; eine rasante Abfolge von drastischen Bildern, wüsten Worten und verfremdeten Situationen.


Ein nackter Lehrer mit Gitarre in der Mädchendusche, hüllenlose Männer in Schachteln, Brandopfer, denen die Haut in Fetzen runterhängt: Als Zuschauer muß man sich bei Der böse Onkel auf einiges gefaßt machen. Doch es ist nicht diese Drastik, die dem Film angekreidet wird. Er verherrliche Pädophilie und mache Opfer zu Tätern, heißt es. Zudem erzähle er die wahre Geschichte des Kinderschänders Köbi F. und verletze damit Persönlichkeitsrechte.


Obwohl der Nidwaldner Regisseur Urs Odermatt es abgestritten hat, ist die Nähe zum Fall Köbi F., der in den Neunzigerjahren die Aargauer Gemeinde Möriken aufgewühlt hat, unbestreitbar: hier wie dort ein pädophiler Turnlehrer, eine „erst“ seit zwölf Jahren ortsansässige Anklägerin und eine Gemeinde, die ihren Dorfhelden schützt und statt seiner die „Fremde“ angreift. Dennoch könnte niemand dem Film vorwerfen, er bilde Realität ab: Odermatt bedient sich geradezu meisterhaft des Verfremdungseffekts. Songs, Kommentare, künstlich wirkendes Schauspiel, surreale Situationen und Abfilmung der eigenen Dreharbeiten, das alles sorgt dafür, daß der Zuschauer auf Distanz bleibt und trotzdem Zeit hat zum Nachdenken.


In den eigenen Augen ein Held

Daß der pädophile Turnlehrer Armin (gespielt von Jörg-Heinrich Benthien) sympathisch wirken würde, läßt sich auch nicht behaupten. Vielmehr leidet der einstige Landesmeister im Turmspringen unter einer fatalen Wahrnehmungsstörung. Er, der den Schülerinnen so gerne sein baumelndes Gemächt zeigt, glaubt wohl selber, was die Dörfler von ihm sagen: Er sei ein „Prachtskerl“, „der einzige Held, den das Dorf je hervorgebracht hat“. Bei so viel Selbstverliebtheit verwundert es nicht, daß Armin die normale Teenie-Schwärmerei seiner Schutzbefohlenen gnadenlos ausbeutet.


Seine Gegenspielerin Trix Brunner (Miriam Japp), deren Tochter Saskia ihr von Armins Übergriffen erzählt hat, ist auch nicht gerade eine Lichtgestalt: Verbittert und schrill wie sie Armins Bestrafung fordert, kann sie kaum Unterstützung erwarten. Am Schluß sinkt sie moralisch noch tiefer als der Angeklagte, nicht nur, indem sie seine Methode der „Strip-Strafe“ an der Schulpflege-Chefin anwendet. Der Weg des bösen Onkels in den Knast ist schließlich mit Leichen gepflastert. Fast alle Akteure werden bestraft; auch die unschuldigen Mädchen, die es eigentlich zu schützen galt.


Radikal und originell inszeniert

Die Machart von Der böse Onkel ist so atemberaubend ungewöhnlich, daß man kaum glauben kann, daß der Regisseur ein Schweizer ist. Unfaßbar auch, daß sich so ein Werk – 50 Drehtage, 67 Schauspieler, 183 Crewmitglieder – mit nur 68'000 Franken realisieren ließ. Dem Film ist Erfolg zu wünschen. Vielleicht werden ihn nicht Zehntausende sehen; aber viele, die es wagen, werden es ein zweites Mal tun, nur um alle seine Finessen mitzubekommen.

Irene Widmer

Tagesanzeiger, Der böse Onkel, Urs Odermatt.
Der böse Onkel, Urs Odermatt.